4. Karstadt Ruhrmarathon
Abenteuerlauf - Marathon mit VfB-Schal durch Gelsenkirchen-Schalke


Bevor ich mit dem Laufbericht beginne, muss ich ein klein wenig den Samstag aus fussballerischer Sicht in Erinnerung bringen:
Um 15:30h sah die Bundesligatabelle noch folgendermassen aus:

1.) 1.FC Schalke 04 ...... 32 - 20-5-7 - 51:29 - +22 - 65 Punkte
2.) VfB Stuttgart .......... 32 - 19-7-6 - 56:34 - +22 - 64 Punkte
3.) SV Werder Bremen ... 32 - 19-6-7 - 73:38 - +35 - 63 Punkte

Unter anderem standen folgende drei Begegnungen heute Nachmittag an:
VfL Bochum - VfB Stuttgart
Borussia Dortmund - FC Schalke 04
SV Werder Bremen - SG Eintracht Frankfurt

Wenn ich bei einer solchen Tabellenkonstellation schon mal ein Wochenende im Ruhrgebiet bin, dann ist es doch klar, daß ich ins Ruhrstadion nach Bochum gehe (wo praktischerweise am Abend auch noch unsere Marathonvorbereitungs-Pastaparty stattfinden soll) und mir die Begegnung "meines" VfB gegen Bochum anschauen werde! ... der VfL war in den letzten Wochen ziemlich stark (unter anderem Siege in Frankfurt, Leverkusen, Hamburg und zu Hause gegen den Tabellenführer FC Schalke 04). Von daher war sonnenklar, daß das heute auch kein Selbstläufer für den VfB Stuttgart werden würde.

Ich konnte noch eine der letzten Eintrittskarten ergattern - und da es eine Stehplatz-Karte war, stand ich nun mitten im schwäbischen Fanblock und fühlte mich so an meine Zeit als Jugendlicher erinnert, wo ich regelmässig den A-Block im Neckarstadion besuchte. Die Stimmung hier war wirklich sensationell!

Ich liefere jetzt hier keinen kompletten Spielbericht ab, schließlich soll das hier ja ein Marathonbericht sein - nur ein kurzer Abriss, um der Dramatik des Tages Tribut zu zollen: nach vier Minuten führte Bochum mit 1:0. Doch Stuttgart drängte intensiv auf den Ausgleich, was Thomas Hitzlsperger dann auch gelang. Kurze Zeit später jedoch mit dem 2:1 ein erneuter Rückschlag. Nun gab es irgendwann einen Zeitpunkt, an dem alle drei Meisterschaftskandidaten (VfB mit 1:2, Schalke mit 0:1 in Dortmund und Werder Bremen mit 1:2 gegen Frankfurt) zurücklagen. Ja, will denn keiner von denen deutscher Meister werden? Doch! Der VfB will! Mit einer enormen Mannschaftsleistung, einer beeindruckenden, effizienten, und kämpferischen Leistung konnte Stuttgart das Spiel noch drehen und gewann - in einem sehr fairen Spiel (null gelbe Karten!) - letztlich verdient mit 3:2. Kurz vor Schluss konnte sich Timo Hildebrand in seinem drittletzten VfB-Spiel mit einer Glanzparade sogar nochmal besonders in Szene setzen und den Sieg sichern.

Kurz nach 17:15h gab es dann folgende drei Ergebnisse und Tabellenkonstellation:

VfL Bochum - VfB Stuttgart .................... 2:3
Borussia Dortmund - FC Schalke 04 ............ 2:0
SV Werder Bremen - SG Eintracht Frankfurt .. 1:2

1.) VfB Stuttgart .......... 33 - 20-7-6 - 59:36 - +23 - 67 Punkte
2.) 1.FC Schalke 04 ...... 33 - 20-5-8 - 51:31 - +20 - 65 Punkte
3.) SV Werder Bremen ... 33 - 19-6-8 - 74:40 - +35 - 63 Punkte

Wir feierten also nicht nur den Stuttgarter Sieg, sondern auch die Tabellenführung einen Tag vor Saisonende! Sensationell! Auf dem Heimweg in der Regionalbahn nach Essen sangen Stuttgarter und Dortmunder Fans gemeinsam: "Deutscher Meister wird nur der VfB" oder auch "Schade Schalke, alles ist vorbei" ... irgendwie lustig, wie Dortmunder, Stuttgarter (und eigentlich auch die Bochumer) hier vereint und gemeinsam sangen! Nur die Schalker im Zug schauten etwas frustriert und konsterniert drein. Gut, wer will es ihnen verdenken!

Nun zum Ruhrmarathon am Folgetag und der Begründung, warum der heutige Spieltag in seiner Dramatik und geografischen Konzentration auf's Ruhrgebiet so wichtig für den Marathon war. In den letzten drei Wochen konnte ich - dank einer leichten Erkältung - kaum richtig trainieren und insbesondere keine langen Trainingsläufe (also über 30 Km) absolvieren. Deshalb war sonnenklar, daß ich keine Bestzeit laufen würde. Eigentlich wollte ich sogar nur den Halbmarathon bis Herne laufen und dann vernünftigerweise aussteigen. Als leidenschaftlicher Fan seit frühen Kindheitstagen an, wollte ich nun also mit einem VfB-Schal den Lauf durch den Pott bestreiten! Gesagt - getan.

Start in Dortmund. Ich plane - wie gesagt - eigentlich in Herne abzubiegen und "nur" den Halbmarathon zu laufen. Oder soll ich vielleicht doch den Ganzen probieren? Wenn ich sehr langsam laufen sollte, sollte ich eigentlich ziemlich problemlos durchkommen, oder? Nun ja, das wäre aber nicht sonderlich vernünftig. Ach, ich habe ja noch rund 20 Kilometer Zeit, das zu entscheiden - aber ich denke schon, daß ich nur den Halben laufen werde.

Ziemlich schnell merke ich (und das war mir natürlich auch schon vorher klar), daß mich das Laufen mit Schal enorm zum Schwitzen bringen würde. Aber ohne Bestzeitambitionen ist das ja auch okay so. Meistens lasse ich den Schal einfach um Hals und Schultern hängen, doch gelegentlich wollte ich ihn auch - mit stolz geschwellter Brust - in die Höhe recken! (diese Bilder sind zwar erst nach dem Zieleinlauf entstanden, aber so habe ich auch unterwegs ausgesehen):

Portrait
Portrait

Schon im Startblock wurde ich immer wieder von Mitläufern angesprochen, die mir gratulierten. Manche gratulierten auch gleich schon zur Meisterschaft. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste - noch ist das Ding nicht gelaufen! (Im wahrsten Sinne des Wortes).

Dortmund. Gerade die Fans der Borussia gratulierten mir besonders herzlich! Sei es unter den Zuschauern oder auch den zahlreichen Läuferinnen und Läufern die im schwarz-gelben BVB-Trikot liefen! "Und wem habt Ihr die Meisterschaft zu verdanken?" war die Standard-Frage. "Danke BVB!" war meine Antwort mit einem dankbaren Strahlen im Gesicht. (Wobei ich natürlich einhaken muss, daß der VfB diesen Tabellenplatz nicht primär anderen zu verdanken hat, sondern ihn sich primär selbst erkämpft hat ... aber wenn Borussen-Fans mit obiger Frage um Anerkennung werben, dann sollen sie sie doch bekommen! Zur Feier des Tages sei es ihnen doch gegönnt. Wir sind doch alles eine grosse Familie!).

Wir erreichen Bochum. Soll ich eigentlich nicht vielleicht doch den ganzen Marathon laufen? Schliesslich habe ich für den ganzen bezahlt und als echter Schwabe sagt man sich natürlich auch, wenn ich für den Ganzen bezahlt habe, dann will ich auch den Ganzen haben! ... andererseits plädierte die Vernunft in mir eindeutig für einen Zieleinlauf in Herne. Es gäbe genug gute Begründungen, warum ich den vollen Marathon gar nicht laufen "konnte"
1.) wie gesagt hatte die letzten drei Wochen - dank Training - gar nicht ausreichend trainiert.
2.) ich hatte gestern Sieg und Tabellenführung - gemeinsam mit Stuttgartern (und auch einigen Dortmundern) - ausgiebig gefeiert.
3.) meine Ernährung gestern (insbesondere auch die flüssige) war nicht gerade die, die man klassischerweise vor einem Marathon zu sich nehmen sollte.
4.) und überhaupt bin ich die ganze Zeit in Bochum im Stehblock gestanden. Deshalb waren meine Beine ohnedies nicht marathon-tauglich.
5.) deshalb war ich mental auch gar nicht auf Marathon eingestellt.
6.) und für einen vollen Marathon war der umhängende Schal als zusätzlichem Schwitzfaktor sicherlich auch nicht sonderlich praktisch.

Also Entscheidung für den Zieleinlauf zum Halbmarathon in Herne! Ganz einfach! Doch jetzt waren wir erstmal in Bochum. Immer wieder begegnete ich unterwegs auch Bochumer Läufern, die mir auch allesamt anerkennend zum gestrigen verdienten Sieg der Stuttgarter gratulierten. Es machte richtig Spass, diesen Schal als Aufmerksamkeitsfaktor bei sich zu tragen. Plötzlich war ich nicht mehr ein x-beliebiger Läufer unter vielen Tausend, sondern einer, der durch sein Outfit den Mitläufern und Zuschauern etwas Abwechslung bot. Dies zeigte sich insbesondere, je näher wir dem Zentrum von Bochum kamen. Wie ich schon von 2005 her wußte, waren hier immer besonders viele auch lautstarke Zuschauer. Einige auch im Bochum-Trikot (und natürlich zwischendrin auch ein paar Dortmunder). Nun ließ ich es mir nicht nehmen, meinen Schal immer wieder voller Freude frontal in die Menge zu strecken. Das förderte die Stimmung immer ungemein. Gelegentlich kam es auch mal vor, daß welche "buuuuh" oder "oh jeee" riefen. Doch insgesamt war die Stimmung dann einfach immer richtig klasse! Und ich bekam unterwegs viele, viele Glückwünsche und Anerkennungen von den Zuschauern.

Im Gegensatz zu 2005 waren die berühmten Bochumer Polizisten Toto und Harry dieses Jahr nicht zu sehen. Dafür wurde ich von einer Gruppe Dortmunder überholt, die mich fragten, ob ich den Ganzen oder den Halben laufen möchte? Ich antwortete: "das entscheide ich in Herne" (obwohl ich mich ja innerlich bereits für den Halben entschieden hatte). "Na ja", war die Antwort der Dortmunder, "also, mit diesem Schal durch Gelsenkirchen, durch Schalke zu laufen, wäre ja schon ziemlich mutig". Beim Halbmarathon kommt man nicht durch Gelsenkirchen. Beim Marathon schon. Soll ich mir das wirklich entgehen lassen? Mit dem VfB-Schal durch die "Höhle des Löwen"? ... nee, es wäre schon sinnvoller, in Herne Schluß zu machen ... oder? ... nun ja ... also so durch Gelsenkirchen zu laufen, hätte ja schon seinen Reiz ehrlich gesagt. Wer mich kennt, weiß daß ich gerne mal ein bißchen provozieren kann - natürlich immer nur mit Humor und einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Nie in aggressiver Art und Weise. Das lehne ich ab. Die Idee reizt mich schon. Also: so mit dem VfB-Schal durch Gelsenkirchen zu laufen ... hm ... das hätte schon was für sich ...

Mit diesen Gedanken durch den Kopf kam ich schließlich nach Altenbochum. Und da! Plötzlich! Am Strassenrand ein VfB-Fan! Unglaublich! Hier mitten im Pott! Da war das "Hallo" auf beiden Seiten natürlich besonders gross! Weder hatte ich unter den Zuschauern einen bekennenden VfB-Fan erwartet, noch hatte dieser Zuschauer einen laufenden VfB'ler erwartet. Die Freude war gross!

Wir erreichen Herne. Die Entscheidung naht. In einigen Minuten werde ich im (Halbmarathon-)Ziel angekommen sein, duschen können, gemütlich ein Bier geniessen können und in der Fußgängerzone von Herne gibt's sicherlich auch ein paar Schalke-Fans und bei allen anderen würde ich sicherlich auch für gute Stimmung sorgen. In einer Kurve überholt mich einer: "Glückwunsch! Ihr habt die Meisterschaft verdient! Kann man gar nicht anders sagen!". "Danke, danke" antworte ich. "Wir sind ja selbst Schuld, daß wir das gestern vermasselt haben!". Wir? Oh, tatsächlich! Ein Schalker! Der traute sich hier im Schalke-Trikot zu laufen. Aber ich fand es stark von ihm, wie er mich ansprach und so verabschiedete ich ihn mit "Kopf hoch! Es wird auch bei euch weitergehen" und er zog von dannen.

Noch zwei Kilometer, dann würde ich mit meinem VfB-Schal in Herne einen "grandiosen" Zieleinlauf feiern! In Herne! In Herne? Will ich's nicht doch lieber im "Original" - sprich: in Gelsenkirchen versuchen? Soll ich wirklich durch Gelsenkirchen laufen? Soll ich? Also, im Moment können meine Beine ja noch. Aber werden sie durchhalten? Ich bin doch einfach nur verrückt. Wie kann ich sowas nur ernsthaft in Erwägung ziehen. Andererseits: in dieser Konstellation wirst Du nie wieder durch Schalke laufen können! Nie wieder! Heute oder nie wieder! Deine Mannschaft hat gestern auf dem Platz auch gekämpft und alles gegeben! Also zeig heute, daß du das auch kannst! ... und während ich das dachte war ich auch schon an der Abzweigung für den Halbmarathon vorbei und lief - ich wollte es erst selbst nicht glauben - auf der Marathonstrecke weiter in Richtung ... Wanne-Eickel.

Wanne-Eickel. Meiner Lebtag war ich noch nie hier gewesen. Wanne-Eickel. Meiner Lebtag hatte ich mich noch nie mit dieser Ortschaft beschäftigt. Wanne-Eickel. Kannte ich bislang lediglich von Hörensagen. Ein Strassenschild: geradeaus geht's nach Gelsenkirchen. Doch erstmal muss ich durch dieses Wanne-Eickel. Was für Fans leben hier eigentlich? Sind das Schalker? Sind das Bochumer? Sind das Dortmunder? Wanne-Eickel. Ein völlig weisser Fleck im - mir sonst bekannten - Fußballatlas. Wanne-Eickel - was ist das überhaupt? Die Realität: viele hier sind Dortmund-Fans (jubelten mir laut zu), viele sind Bochum-Fans (jubelten mir - zwar etwas verhaltener, aber dennoch - zu) und - schau her - auch ein paar Schalke-Fans! Nun und da gab es dann durchaus ein paar Buh- und Schmäh-Rufe und auch das nicht gänzlich unbekannte Schimpfwort mit "Sch..." wurde mir gelegentlich verbal entgegen- geschleudert. Wanne-Eickel. Rechts geht's nach Gelsenkirchen. Doch unsere Marathonstrecke verläuft weiterhin geradeaus. Sind wir eigentlich gerade in Wanne oder in Eickel? Spielt das überhaupt eine Rolle? Ist Eickel nicht genauso irrelevant, wie Wanne? Jetzt zeigt das Strassenschild nach Gelsenkirchen plötzlich mit Pfeil nach links. Doch unsere Strecke geht weiterhin geradeaus. Wanne-Eickel. Und dann geschah plötzlich das schlimmst- mögliche Szenario, welches ich mit meiner Aktion befürchtet hatte! Hier! Mitten in Wanne-Eickel!

Urplötzlich begann - aus der Zuschauermenge heraus - jemand, auf mich zuzurennen. Mit grimmigem Gesicht! Ein Schalker? Was hat er jetzt vor? Wie soll ich reagieren? Er kommt immer näher und näher. Am besten reagiere ich gar nicht! Versuche, ihn zu ignorieren und in meiner Geschwindigkeit, Körperhaltung und Mimik keinerlei Angst oder Respekt vor ihm bemerkbar zu machen, sondern ein souveränes Gefühl der Überlegenheit, um damit seinem Unterbewußtsein gezielt zu signalisieren: von dir lasse ich mich nicht unterkriegen! Lass es besser bleiben! Doch das grimmige Gesicht kommt immer näher, ein Zusammenprall erscheint jetzt fast unausweichlich ... um mich herum nur sehr wenige andere Läufer. Und dann geschieht das Unfassbare: kurz bevor er mich umgerannt hätte, biegt er um, sein Gesicht hellt sich auf, verwandelt sich in strahlende Freude, er reicht mir seine Hand, ich gebe ihm die meine und voller Inbrunst brüllt er mich an: "herzlicher Glückwunsch, das habt ihr super gemacht! Hauptsache, Schalke wird nicht Meister!" ... Wanne-Eickel.

Ein ganz leichter Krampf in den Beinen. In letzter Zeit wohl zu wenig magnesiumhaltige Nahrungsmittel zu mir genommen. Dieser Krampf ist nur ganz leicht spürbar. Aber falls das jetzt schlimmer werden sollte, habe ich ein Problem. Noch immer habe ich rund zwanzig Kilometer vor mir! Und Gelsenkirchen! Das wäre ein Schreckensszenario - mitten in Gelsenkirchen wegen Krampf im Fuss stehenbleiben und abbrechen zu müssen. Nicht in der Höhle des Löwen! Bitte nicht! Bitte, liebes rechtes Bein, wenn Du schon einen Krampf kriegen willst, dann warte damit wenigstens bis Essen!

Wir verlassen Wanne-Eickel. Am Strassenschild steht: "Gelsenkirchen - 3 Km". Unterwegs eine herrschaftliche Villa. Ein Auto mit Schalke-Fahnen steht davor und drumherum zwei Damen, die sich angeregt unterhalten. Ich zeige ihnen meinen Schal entgegen und ich kann ihnen ein müde-schelmisches Lächeln entlocken. Eine Villa zwischen Wanne-Eickel und Gelsenkirchen? Vielleicht waren das ja Spielerfrauen? ... wer weiß? ... vielleicht auch nicht. Ist ja auch egal. Der Abenteuerlauf geht weiter.

Dann endlich ist es soweit: ich erblicke das Strassenschild von Gelsenkirchen! Vor wenigen Jahren war ich schon einmal in dieser Stadt. (Mit meinem Bruder im Stadion bei einem Bundesligaspiel gegen den VfB Stuttgart). Das Strassenschild kommt immer näher. Und im Überschwang meiner Freude, auch im Überschwang meines Übermuts lasse ich mich zu einem doppelt folgenschweren Sprung hinreissen: ich springe mit meinem VfB-Schal mitten auf dieses Strassenschild drauf. In voller Absicht, um symbolisch zu signalisieren, wer hier im Moment obenauf ist. Autsch! Das hätte ich lieber bleiben lassen sollen. Denn jetzt verkrampfte sich mein Bein so derart, daß ich nicht mehr laufen konnte, sondern etliche Meter mit schmerzverzerrtem Gesicht weiterhumpeln mußte. Dummheiten bestraft der liebe Gott bekanntlich sofort. Und der Schalke-Fan auch. Denn die Schalker, die diesen Sprung von weitem gesehen hatten, brüllten mich in einer Art und Weise an, wie ich es auf der gesamten Strecke bislang noch nicht erlebt hatte. Das war schon wirklich grenzwertig. Ich war also endlich in Gelsenkirchen angekommen!

Ich näherte mich mehr und mehr der Innenstadt und damit den Stimmungsnestern unter den Zuschauern. Und da war es dann auch soweit. Mitten auf der Strecke (und damit ausreichend von beiden Zuschauerabsperrungen linkerhand und rechterhand entfernt) lief ich nun, meinen Schal mit einer Mischung aus Stolz, Trotz, aber auch tiefer, aufrichtiger Freude demonstrativ in die Zuschauermenge zeigend, die Strasse entlang. Da war das Gebrüll, das Pfeifen, das Buhrufen und die Verbal-Attacken aber gross! Doch davon liess ich mich nicht beirren - im Gegenteil, das spornte, das stachelte mich erst recht noch an! Jetzt erst recht! Weiter so! Es wurde zum Spießrutenlauf. "Kaum zu glauben, daß der sich traut, hier so zu laufen!", "Hau ab, aber möglichst schnell!", "Raus aus dieser Stadt", "Das darf doch nicht wahr sein!", "Was hat der denn hier zu suchen?" sind eine Auswahl derjenigen Ausrufe, die mir entgegengeschleudert wurden, die ich hier überhaupt jugendfrei wiedergeben darf ... alles andere lasse ich hier mal dezent und disrekt unerwähnt ;-)

Das machte enorm Spass und gab mir erst recht einen enormen Kick! Ein irrsinniges Gefühl! Richtig geil! Ich glaube es selbst kaum: ich laufe mit einem Schal des VfB Stuttgart quer durch Gelsenkirchen und auch durch seinen Stadtteil Schalke. Plötzlich steht rechts an der Strecke an einem Haus ganz groß "Vereinsheim des FC Schalke 04". Demonstrativ bekommt dieses Heim erst recht meinen Schal entgegengestreckt. Mein Gesicht? Ein breites, erfülltes Lächeln! Nicht aus Schadenfreude und Häme, sondern aus tiefer, echter, eigener, aufrichtiger, innerer Freude! Ich geniesse das hier! Die Buhrufe, die Verbalattacken, das Pfeifen prallt an mir ab, wie Regentropfen an einem imprägnierten Regenschirm. Ich laufe unbeirrt weiter.

Rotthausen. Gelsenkirchen-Rotthausen. Hier hat sich auf beiden Seiten entlang der Strecke ganz groß der Schalke-Fanclub "Rotthausen" platziert, um die Läufer anzufeuern. Das wiederum feuert mich natürlich an, auch hier wieder meinen Schal voller Genugtuung und Freude in die Menge zu zeigen. Und auch hier ein Geschrei, ein Buh, ein Gerufe. Es würde die Schamröte in die Gesichter meiner Leser treiben, wenn ich hier wörtlich wiedergeben würde, was mir so alles an den Kopf geworfen wurde. Doch das feuert mich nur noch umsomehr an und ich laufe mit meinem strahlenden Lächeln immer weiter und weiter.

Essen. Noch zehn Kilometer bis zum Ziel. Nicht in Herne abzubiegen, sondern den Marathon weiterzulaufen war eine dumme Idee, eine saudumme Idee. Aber nur aus Vernunfts-Gründen. Aus emotionalen Gründen habe ich genau das richtige gemacht! Doch das sollte sich jetzt körperlich rächen! Mir fiel das Laufen immer schwerer und der Krampf im rechten Bein machte sich auch alldieweil alle paar hundert Meter mehr oder minder deutlich bemerkbar. Ausserdem wurde mein Irrglaube, das Ruhrgebiet sei weitgehend flach gerade hier im Essener Norden deutlich korrigiert: immer wieder kamen ganz böse Steigungen. Dort am Strassenrand sitzen ein Schalke- und ein Dortmund-Fan friedlich nebeneinander ins Gespräch vertieft. Der Dortmunder erspäht mich und lächelt mir vielsagend zu. Ich rufe ihm laut zu: "Danke, Dortmund!", was wiederum der Schalker mitkriegt und "Oh nein, was sucht denn sojemand hier?" entgegenruft, während ihn der Dortmunder einfach nur auslacht und mir die gestreckten Daumen entgegenzeigt, während der Schalker sich voller Verzweiflung an den Dortmunder klammert. Hier entstehen schon skurrile Verbrüderungsszenen unterwegs. Wenige hundert Meter später bei einer Versorgungsstelle greife ich mir einen Becher Wasser von einem Helfer, der sich einen BVB-Schal umgehängt hat - auch ihm rufe ich "Danke Dortmund" entgegen und er fragt mich, während seine Mimik eine Nuance von Bewunderung ausdrückt und auf meinen Schal zeigt: "und damit bist du heil durch Gelsenkirchen gekommen?" ... ich lächle vielsagend und nicke und laufe weiter.

Kurz vor dem Essener Hauptbahnhof eine Gruppe von Rot-Weiß-Essen-Fans. Die spielen heute Nachmittag noch in der zweiten Bundesliga gegen den Abstieg. Sie haben dieselben Farben, wie der VfB Stuttgart. Sie sehen mich kommen und jubeln mich frenetisch an. Sie glauben wohl aufgrund der Farben, ich wäre Essener, doch sie haben sich getäuscht. Ich zeige ihnen meinen Schal. Plötzlich tritt eine Stille der Verwunderung und Überraschung ein - doch Sekunden später erneut frenetischer Jubel: "Glückwunsch! Die Meisterschaft habt ihr euch verdient! Deutscher Meister wird nur der VfB! Schade, Schalke, alles ist vorbei!" ... Rot-Weiß Essen und VfB United ;-) ... ich komme auf die "Rü", die Rüttenscheiderstrasse. Dort soll - so wurde mir berichtet - immer besonders viel Stimmung sein. Also bisher war die beste Stimmung zweifellos in Bochum und in Gelsenkirchen. Das war mein Maßstab und da muß ich sagen, war auf der "Rü" in Essen deutlich weniger los. Das mag aber einerseits an der fortgeschrittenen Zeit liegen und vielleicht auch daran, daß es begonnen hatte, leicht zu tröpfeln. Doch dann zeige ich auch hier nochmal meinen Schal demonstrativ in die Menschenmenge und da brandet plötzlich auch grosser Jubel entgegen. Und per Lautsprecher höre ich: "da begrüssen wir auch einen Stuttgarter! Glückwunsch zur Meisterschaft! Mit der Startnummer D1794 ist das Martin Zimmermann aus Frankfurt am Main". Da wird sich vielleicht der eine oder andere Essener gedacht haben, warum einer aus Frankfurt für den VfB Stuttgart ist. Doch nein, das muß man genau anders herum sehen: es gibt eben auch waschechte, gebürtige Schwaben, die es aus beruflichen Gründen in die Mainmetropole verschlagen hat. Und ganz am Rande sei erwähnt, daß ich der Eintracht Frankfurt am gestrigen Spieltag ja auch ein klein wenig dankbar sein darf!

Dann der Teufelslappen in der "Rü". Nur noch ein Kilometer bis zum Zieleinlauf auf dem Messegelände von Essen. Hier stehen die Menschen jetzt dicht gedrängt, die Stimmung ist etwas lahm - manche stehen schon seit Stunden hier. Ich nehme also wieder meinen Stimmungs- und Motivations-Erzeuger - den VfB-Schal - und prompt geht das Gejohle und Gejuble wieder los. Ein sensationeller Zieleinlauf. Ein sensationeller Marathon. Ein sensationelles Wochenende. Die Zeit ist egal. Viereinhalb Stunden habe ich gebraucht. Körperlich waren es viereinhalb sehr mühsame Stunden. Aber emotional war es einfach nur geil. Mit dem VfB-Schal durch Gelsenkirchen! Ein sensationelles Erlebnis!

Hat es denn wirklich keinen Angriff, keinen sonstigen Zwischenfall gegeben? Doch, ja! Einen gab es! In Gelsenkirchen! Natürlich! Mittendrin! Es war an einer Versorgungsstelle. Ich möche mir einen Becher Wasser greifen, als ein Marathon-Helfer (!!!) zwei Becher Wasser nimmt, sie mir mit voller Wucht an den Kopf wirft und mir voller Zorn entgegenbrüllt: "Sch ... -VfB Stuttgart". Ich trage es mit Fassung. Wer austeilen kann, kann schließlich auch einstecken. Nass bin ich ohnedies schon. Vom Schwitzen. Da tut diese Wasserdusche sogar ganz gut. Und schmerzhaft waren die Becher ja auch nicht - sie waren aus Pappe. Ich lächle ihm milde entgegen und laufe weiter. Weiter durch Gelsenkirchen, weiter mit dem VfB-Schal, unbeirrbar weiter ...

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© Mai 2007 erstellt von Martin J. Zimmermann.
Letzte Änderung dieser Seite: 15. Mai 2007.